Überschrift

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

 

 

zunächst einmal freue ich mich sehr, heute hier zu Ihnen sprechen zu dürfen und bedanke mich ganz herzlich für die Einladung. Ich spreche hier zu Ihnen in verschiedenen Funktionen: Als Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland, meinem Dachverband, und auch der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg. Vor allem aber bin ich Fellbacher mit Leib und Seele. Die Türkische Gemeinde in Deutschland – viele von Ihnen werden unsere Organisation kennen – ist der bundesweite Dachverband säkular orientierter Türkei stämmiger Migrantenorganisationen. Dazu gehören Landesverbände in nahezu allen Alt-Bundesländern, Fachverbände wie zum Beispiel die Föderation türkischer Elternvereine oder der Jugendverband Young Voice TGD. Die Erfahrungen all dieser Menschen, die sich zum Teil seit weit über 20 Jahren für das Zusammenleben hier in Deutschland engagieren, habe ich heute im Gepäck, wenn ich zu Ihnen spreche.

 

Neulich erhielt ich eine anonyme Nachricht, in der ich und stellvertretend die ganze türkische Community als „Kümmeltürke“ bezeichnet wurde. Kümmel, Knoblauch und Ziegen – die immer wiederkehrenden Bilder, die wir im Rahmen von Hassnachrichten erhalten, könnten aus den frühen Gastarbeiterzeiten kommen. Aber sie sind leider brandaktuell. „Kümmeltürke“ – das war eine Reaktion auf meine öffentliche Aussage, dass dieses – unser Land – uns allen gehört. Und das wir für dieses Land Verantwortung übernehmen.

Der Türkeistempel, mit allem, was dazu gehört, ist offenbar schwer abzulegen. Ich weiß, dass Cem und viele andere Freunde hier das bestätigen können.

 

Die anhaltenden polarisierenden Debatten in den deutschen Medien in Bezug auf die Türkei und auch in Bezug auf die türkische Community in Deutschland tragen leider massiv dazu bei, dass wir als TGD so leidenschaftlich gehasst werden, wie selten vorher in der Geschichte unseres Bestehens. Und es ist nicht so, dass sich die Menschen vorher die Mühe machen würden auf unserer Homepage zu recherchieren, wofür wir eigentlich stehen.

Ein Beispiel für die Form der Berichterstattung aus der letzten Woche:

Die im Auftrag des NDR-Magazins Panorama angefertigte Umfrage zur politischen und sozialen Situation von türkeistämmige Migrant*innen in Deutschland, sorgte aufgrund der Zustimmungswerte für Erdogans Politik und die Heimatgefühle für die Türkei für große Verwunderung in der Öffentlichkeit.

Die Umfrage kommt also eigentlich zum dem wenig spektakulären Schluss, dass der Bildungsgrad die Zustimmungswerte zur Politik von Recep Tayip Erdogan massiv beeinflusst. Demnach sind die formal höher Gebildeten besser integriert und stünden Erdogan kritischer gegenüber. Bei den weniger gut Ausgebildeten stiegen die Sympathie und die Zustimmung für die Politik Erdogans sprunghaft an.

 Auf diesen Umstand weisen wir schon seit Jahren hin. Wollen wir, dass diese Menschen sich nicht von populistischen Parolen einfangen lassen, müssen wir die strukturelle Diskriminierung im Bildungsbereich beheben. Erst heute wurde die IGLU-Studie veröffentlicht, die Belegt, dass für Kinder mit Migrations-hintergrund, insbesondere mit beiden im Ausland geborenen Elternteilen, im Vergleich zu Kindern, deren Eltern in Deutschland geboren sind, ein deutlich erhöhtes Risiko besteht, den Leistungsschwachen anzugehören, ähnliches gilt übrigens für die Kinder von Eltern mit niedrigen Bildungsabschlüssen. Die Formel ist hier ganz einfach: gerechte Bildungschancen schaffen soziale Mobilität und führen zu einer höheren Identifikation mit diesem Land – nicht nur bei Migrant*innen. Das Beispiel Bildungssystem zeigt, dass die ganze Gesellschaft profitieren würde, wenn endlich die Regelsysteme fit gemacht würden für die Einwanderungsgesellschaft.

Was ist nun aber medial gemacht worden aus den Ergebnissen der Studie? Das Geschehen ist leider sinnbildlich für den aktuellen Diskurs. Dort werden einfach Fragen zur Türkeipolitik Deutschlands, Heimatgefühle und der Politik Erdogans zu einer Loyalitätsfrage gegenüber Deutschlands hochstilisiert.

Diese Zuspitzung auf die Loyalitätsfrage spaltet die Gesellschaft auf die gleiche Weise, wie es der türkische Staatspräsident tut. Der Effekt ist: die Türkei stämmigen Menschen gegen Deutschland und Deutschland gegen die türkische Community aufzubringen. Es erscheint wie eine unheilige Allianz zwischen Populisten und Medien. Einfache Botschaften und Spaltung machen Quote. „Bist du nun Türke oder Deutscher?“ Diese Frage zwingt Menschen zu einem Entweder oder – die schon seit Jahren ein sowohl als auch leben wollen.“ Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die eine große Sympathie zu Erdogan und seiner Politik haben und sich gleichzeitig im Fussballverein für Jugendliche einsetzen und zum Beispiel SPD wählen, gehört zu den zahllosen Widersprüchen, die wir aushalten können sollten. Ebenso wie die Tatsache, dass Wähler*innen von allen Parteien zur AFD gewechselt sind.

 

Was sind die momentanen und zukünftigen Herausforderungen – in Bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland? 

Wir stehen an an einem Scheideweg. Der Konsens einer vielfältigen und offenen Gesellschaft wird bedroht. Der wachsende Rechtspopulismus und Rechtsextremismus,  wachsende Muslimfeindlichkeit, Gewaltübergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte u.v.a. bedrohen diesen Konsens: Wir dürfen nicht zurückfallen, wir dürfen uns nicht treiben lassen von Populisten und völkisch-nationalistischem Denken, sondern wir müssen den Weg von Anerkennungs- und Willkommenskultur weitergehen, dem Anerkennen unserer vielfältigen Gesellschaft, dem Weg zu einem Mehr an Teilhabemöglichkeiten für Alle und mehr Chancengerechtigkeit.

Für uns als Türkische Gemeinde lautet die alles entscheidende Frage in den nächsten vier Jahren: Lassen sich die etablierten Parteien nach rechts treiben oder existiert ein breites Bündnis aus Demokrat*innen, dass sich klar bekennt zur Vielfalt in Deutschland?

Auch die immer wiederkehrende Leitkulturdebatte und die Sehnsucht nach nationaler Homogenität deutlich, dass hier das Konfliktfeld unserer Zeit liegt.

Vielfalt und Demokratie müssen daher immer wieder aufs Neue verteidigt werden.

Ich sage das hier noch einmal in aller Deutlichkeit, weil dieses Thema immer und immer wieder auf der politischen Tagesordnung auftaucht:

Die Türkische Gemeinde in Deutschland lehnt eine wie auch immer gestaltete deutsche Leitkultur entschieden ab. 

Ein Forderungskatalog im Sinne einer einseitig festgeschriebenen Leitkultur, sehen wir als ein Mittel, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus dem gesellschaftlichen Leben auszugrenzen.

Wir fordern daher eine Abkehr von trennenden Leitkulturdebatten und stattdessen eine Orientierung zu pluralistischen und partizipatorischen Prinzipien des Zusammenlebens, wie soziale Gerechtigkeit und Teilhabe, die kulturelle und soziale Grenzen überwinden können. 

(lauter werden/Betonung)

Wir brauchen keine Leitkultur, sondern die konsequente Umsetzung unseres Grundgesetzes in allen Bereichen der Gesellschaft. Wenn unsere Verfassung gelebte Realität für alle Menschen in Deutschland wäre, hätte dieser Wertekonsens längst die identistätsstiftende Wirkung, die sich viele wünschen. Ein Integrations- und Partizipationsgesetz, das die gerechte Teilhabe in diesem Land sicherstellt, Liebe Freunde und Freundinnen, das ist in den Augen der TGD der richtige Weg zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Für ein solches Gesetz auf der Bundesebene, für das die TGD bereits 2013 einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, sollten wir uns natürlich an dem baden-württembergischen Gesetz zur Verbesserung von Chancengerechtigkeit und Teilhabe orientieren, und nicht etwa an dem bayerischen Integrationsgesetz.

Die NSU-Morde und die skandalösen Ermittlungsmethoden des gesamten Verfassungsschutzes haben einen strukturellen Rassismus ans Tageslicht gebracht, dessen politische und gesellschaftliche Aufarbeitung bis heute nicht geschehen ist. Diese steht uns weiterhin, auch nach dem bevorstehenden Ende des Prozesses in München, erst noch bevor.

Die Öffentlichkeit kann sich sicher sein, dass die Türkische Gemeinde in Deutschland hier nicht locker lassen wird!! Wir werden keine Ruhe geben bis endlich die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. Und wir hoffen, dass Sie alle uns auf diesem Weg zur Seite stehen.

Der alltägliche und institutionelle Rassismus ist der größte Feind einer freiheitlich-demokratischen Ordnung.

Unsere Verfassung zeigt erst dann ihren Wert, wenn sie für alle Menschen gleichermaßen gilt, wenn die Würde von Türkei stämmigen Kindern in Schulen also genauso unantastbar ist, wie die der Kinder deutscher Eltern.

 

Wir wollen Vielfalt leben!  – Was bedeutet das konkret? :

 

Erstens….

Gleichberechtigte Teilhabe braucht ein durchlässiges Bildungssystem, das Schüler mit ungleichen Ausgangsbedingungen gleichermaßen fördert, eine integrative Stadtentwicklung, die Segregation vorbeugt und eine Arbeitsmarktpolitik, die es Menschen aller Bevölkerungsschichten ungeachtet ihrer Herkunft ermöglicht, am Erwerbsleben teilzunehmen.

Integrationspolitik ist somit immer Querschnittspolitik. Damit dieser Satz nicht als eine Floskel verkommt müssen wir diese Aufgabe mit Leben füllen. Es geht darum, die Regelsysteme mutig zu hinterfragen und mit dem Anspruch neu aufzusetzen, dass sie Leistungen in gleicher Qualität für Frauen, Männer und Kinder erbringen, egal welcher sozialen Herkunft, welcher Hautfarbe, welcher sexuellen Orientierung, welchen Alters und welcher körperlichen Verfasstheit sie sind.

Das heißt: Bildungs-, Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitiksind mit diesem Anspruch zu betreiben. Was es braucht ist ein Diversity – Mainstreaming. Nutzen wir die Chance all diese Bereiche zukunftsfähig umzugestalten. .

 

Zweitens…

Den Kampf gegen den Rechtspopulismus und Rechtsextremismus können wir nur gewinnen, wenn wir bereit sind, uns zu öffnen. Öffnung bedeutet, Gemeinsamkeiten mit anderen diskriminierten und ausgegrenzten Gruppen zu finden und uns miteinander zu solidarisieren.

Wir als Türkische Gemeinde haben in letzten Monaten und Jahren erste Schritte dafür getan, indem wir beispielsweise in verschiedenen Aktionen zusammen mit Schwulen- und Lesbenverbänden unsere gemeinsam erlebten Diskriminierungserfahrungen in den Vordergrund gestellt haben. Als Türkische Gemeinde in Baden-Württemberg sind wir dieses Jahr zum zweiten Mal beim Christopher Street Day mitgelaufen. Die Zustimmung innerhalb der türkischen Community ist dabei übrigens gewachsen…

 

Sie als Grüne nehmen Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt ernst, und zwar nicht erst seit 2015. Dies wird nicht zuletzt in Ihrem heutigen Leitantrag, den ich in weiten Teilen übrigens sehr begrüße, mehr als deutlich. Sie haben als Partei funktionierende Mechanismen entwickelt, um Geschlechtergerechtigkeit konkret umzusetzen: Wertvolle Erkenntnisse, die sich natürlich anwenden lassen und angewandt werden müssen auch für den Bereich des Diversity-Mainstreaming. Sie schaffen es als Partei, Migrantinnen und Migranten aktiv mit einzubinden, und zwar auch für entscheidende Positionen. Nach der Linkspartei haben Sie mit knapp 15% einen begrüßenswert hohen Anteil von Abgeordneten im Bundestag mit einer Migrationsgeschichte. Diese Sichtbarkeit von Menschen mit Migrationsbezügen ist entscheidend für das Vertrauen der Migrantencommunities in die politischen Institutionen. Und bestenfalls ermutigt es Migrant*innen, selbst an politischen Willensbildungsprozessen teilzunehmen.

Gerade aufgrund dieser Tatsachen, erlauben Sie mir, gerade bei Ihnen und bei Ihrer Partei die Messlatte etwas höher zu hängen:

Wir appellieren an Sie – als Verfechterinnen und Verfechter einer pluralistischen, vielfältigen und chancengleichen Gesellschaft – das Thema der Gestaltung unserer Einwanderungsgesellschaft im Fokus zu behalten. Lassen Sie sich nicht treiben von allzu verengenden Diskussionen über Grenzwerte: Begrenzung von Migration, Eingrenzung von Familiennachzug oder die Sicherung von Grenzen.

 

Ich möchte deutlich sagen, dass uns diese Position im Rahmen der Sondierungen gefehlt hat!

Wir brauchen Sie alle – als Motor für die konkrete Ausgestaltung unserer vielfältigen Gesellschaft und für ein friedliches, gerechtes Zusammenlebens. Im Ausbau von Diskriminierungsschutz in den Ländern – ganz besonders in den Bereichen der formalen Bildung und der Polizei!, auf Bundeseben in den so dringend nötigen Reformen in den Sicherheitsbehörden und insgesamt für die konsequente Umsetzung aller Empfehlungen der verschiedenen NSU-Untersuchungsausschüsse; für konsequente Demokratieförderung (und damit meine ich sowohl die Unterstützung von Migrantenorganisationen und Flüchtlingsinitiativen als auch von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich explizit gegen Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit einsetzen). Hier muss die klare Haltung und tatkräftige Unterstützung seitens des Ministeriums für Soziales und Integration, deutlich hervorgehoben werden. Manne Lucha setzt richtige Akzente und wir danken ihm dafür. Das Projekt Leuchtlinie, das unter Trägerschaft des TGBW Beratung den Opfern von rechter Gewalt anbietet ist ein ganz konkretes Beispiel.  

 

Lassen Sie uns und lasst uns wachsam sein. Aber nicht ängstlich. Und wenn ich mich hier umgucke dann bin ich mir sicher:

 

Wir können gemeinsam viel bewegen, wenn wir uns die Vision vom Zusammenleben in einer Pluralen Gesellschaft nicht aus dem Blickfeld schieben lassen von denen, die uns zu spalten versuchen.

 In diesem Sinne freue ich mich auf zukünftige gemeinsame Wege und wünsche Ihnen viel Erfolg, hier in Baden-Württemberg genauso wie in Berlin.

 

Vielen Dank!