SPD Bundestagsfraktion Berlin 

Sehr geehrte Damen und Herren,
 

zunächst einmal freue ich mich sehr heute hier zu Ihnen sprechen zu dürfen und bedanke mich für die Einladung. Die Türkische Gemeinde in Deutschland als deren Bundesvorsitzender ich heute zu ihnen spreche ist der bundesweite Dachverband säkular orientierter türkeistämmiger Migrantenorganisationen, d. h. Landesverbände in nahezu allen Alt - Bundesländern, Fachverbände wie zum Beispiel die Föderation türkischer Elternvereine oder unserem Jugendverband Young Voice TGD. Die Erfahrungen all dieser Menschen die sich zum Teil seit weit über 20 Jahre für das Zusammenleben in Deutschland engagieren, habe ich heute im Gepäck, wenn ich zu ihnen spreche.

Wenn die Sozialdemokratie, wie in der Einladung zur heutigen Veranstaltung, für sich in Anspruch nimmt, treibende Kraft für die gesellschaftliche Integration aller hier lebenden Menschen zu sein, und das sage ich als Fellbacher Sozialdemokrat mit Leib und Seele, dann tut sie dies zum Teil mit Recht. Ob auf Landesebene oder in Bund, es ist die SPD die türkeistämmigen Menschen auch höchste politische Verantwortung zutraut und überträgt. Natürlich macht es uns stolz, dass und auf welche Weise mit Aydan Özoguz eine türkeistämmige Staatsministerin für unsere Themenfelder zuständig ist. Und es ist das BMFSFJ unter der Leitung von Manuela Schwesig, dass aktuell in einem nie da gewesenen Ausmaß, die Partizipation von Migrantenorganisationen, wie auch der Zivilgesellschaft insgesamt fördert. Auch die heutige Veranstaltung, hochrangig besetzt wie sie ist, bringt diesen Teilhabe-Anspruch zum Ausdruck.

Allerdings stelle ich an uns als Partei durchaus die Frage: Hätten wir diesen Prozess innerhalb der Partei nicht vor 5, 10, 15, oder gar 20 Jahren beginnen müssen? Hätten wir in Regierungsverantwortung die Teilhabe-Themen nicht stärker in den Mittelpunkt rücken können? Warum haben wir zugelassen, dass türkeistämmige Deutsche, und übrigens auch anderen Migrantengruppen, sich als Mitbürgerinnen und Mitbürger als Menschen zweiter Klasse fühlen?

Um die Perspektive der Deutsch-Türken auf Deutschland zu verstehen, ist es notwendig einen Blick auf die Geschichte zu werfen.

 

Ausgangslage / Historie der Deutschtürken:

beginnen möchte ich mit einer typischen Geschichte, die sich die ehrenamtlich engagierten Menschen in unserem Verband in ähnlicher Weise tausendfach erzählt haben in den letzten 20 Jahren. Ich habe mir extra ein Beispiel aus Berlin schildern lassen. Ausgangslage ist das Kreuzberg der achtziger oder neunziger Jahre. Einige engagierte türkeistämmige Eltern sehen mit Sorge, dass Kinder und Jugendliche vermehrt davon bedroht sind ab zu driften und halten Sport für ein geeignetes Mittel der Prävention. Da sowohl die türkeistämmigen Kinder als auch ihre Eltern sehr zweifelhafte, zum Teil entwürdigende Erfahrungen in deutschen Vereinen sammeln mussten, beschließen sie einen eigenen Verein zu gründen, nennen wir ihn Türkiyemspor.

Sind diese Menschen nun für ihr Engagement, immerhin handelt es sich um Ehrenamtliche Vereinsfunktionäre und Trainer, die Jugendliche von der Straße holen, gefeiert worden?

Ich werde Ihnen sagen was passiert ist. Der Verein ist zunächst als Beweis für misslingende Integration angesehen worden, als Motor zur Entwicklung so genannter Parallelgesellschaften. Dass der Verein am Ligabetrieb teilnimmt, mit anderen deutschen Vereinen Turniere ausrichtet und so weiter hat bei der Betrachtung keine Rolle gespielt.

Heute sind die Mannschaften von Türkiyemspor übrigens multiethnisch zusammengesetzt und der Verein ist einer von drei Vereinen in Berlin die sich aktiv gegen Homophobie im Sport einsetzen.

Die Geschichte der Integration türkischstämmiger Menschen ist leider geprägt von Misstrauen und Kränkungen. Deutlich wird dies, wenn man das kleine Beispiel ins Verhältnis setzt zu politischen Begebenheiten.

  • Wir reden von Rückkehrprämien zu Zeiten Helmut Kohls und zwar nahezu zeitgleich mit der plötzlich ermöglichten privilegierten Migration und Integration für die sogenannten Russlanddeutschen
  • wir reden vom immer wiederkehrenden Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft und der Botschaft: „Du kannst nicht Türke und Deutscher gleichzeitig sein.“ Genauso fühlen sich aber viele Deutschtürken.
  • Wir reden vom Nein zum kommunalen Wahlrecht, und damit von der Botschaft: „als Türke sollst du nicht mitbestimmen, was in deinem Sozialraum passiert.“ Steuern zahlen darfst du natürlich trotzdem.
  • Und wir reden von der sicherlich tiefsten Wunde in der Seele der Deutsch-Türken, dem NSU Komplex, einer beispiellosen Mordserie, deren Botschaft lautet: „Ihr seid nicht schützenswert.“  Einhergehend mit der unfassbar entwürdigenden Behandlung von Opfern und der Botschaft: „Ihr könnt nur Täter sein.“

Mit der schleppenden Aufklärung und dem mangelnden Interesse am Befinden der Opfer ist die Chance vertan worden, Vertrauen wiederherzustellen. 

Wirft man das Schlaglicht nun zurück auf den Alltag, so sind Diskriminierungserfahrungen auf Ämtern, in Schulen, am Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche die alltäglichen Beweise für die oben genannten Botschaften.

Das Vertrauen wieder zurück zu gewinnen wird nicht einfach sein. Ist aber auch nicht unmöglich.

 

Zahlen zur Einschätzung der Lage durch die Deutschtürken

Vor diesem Hintergrund stimmt einen der Blick auf die Zahlen eigentlich optimistisch. In der jüngst veröffentlichten Studie „Integration und Religion aus Sicht von türkeistämmigen in Deutschland“ wird deutlich, dass sich 90 % der türkischstämmigen in Deutschland sehr wohl oder eher wohl fühlen. Ferner erreicht Verbundenheit mit Deutschland Werte um 87 % und liegt damit sogar über der Verbundenheit mit der Türkei. Auch der Wille zur Integration liegt mit 70 % deutlich höher als die aktuellen Debatten es vermuten lassen.

Zudem bestätigt die Studie die oben beschriebene Diskriminierungserfahrung und die damit einhergehenden Gefühle mangelnder Anerkennung und der Unmöglichkeit sich als gleichwertige Deutsche in Deutschland erleben zu dürfen.

Ferner weist die Studie daraufhin, dass die stärkste Abweichung zwischen türkeistämmiger Community und Mehrheitsgesellschaft in der Wahrnehmung und Bewertung des Islam besteht. So assoziieren 57 % der türkischstämmigen mit dem Islam die Achtung der Menschenrechte, was nur 6 % der Gesamtbevölkerung tun. In sehr ähnlichem Verhältnis stehen die Assoziationen zu Solidarität, Toleranz und Friedfertigkeit, während die Assoziationen Fanatismus und Gewaltbereitschaft in der Gesamtbevölkerung Werte von 72 bzw. 64 % erhält während die Deutsch-Türken nur zu 18 bzw. 12 % den Islam mit diesen Begriffen assoziieren.

Wenn ein, für viele Menschen so wichtiger, Bestandteil ihres Lebens von der Gesellschaft so umfänglich abgelehnt wird, ist da verwunderlich, wenn die Menschen sich an sich abgelehnt fühlen?

Gleichzeitig stellt die Studie fest, dass junge Deutsch Türken sich selbst stärker als religiös beschreiben, dabei aber zeitgleich ihre Religion effektiv weniger praktizieren als Vertretende der ersten Generation. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund interessant, dass die Deutsch-Türken seit dem 11. September 2001 verstärkt und ohne jede Differenzierung durch die Mehrheitsgesellschaft und die Medien als Muslime wahrgenommen, kritisiert und zum Teil auch diffamiert werden. In der Auswertung der Studie wird vermutet, dass es zu einer Art über Identifikation genau mit den Bereichen kommt die besonders stark abgelehnt werden, also zu einer Art trotz Reaktion.

Erdogan als Identifikationsfigur und Kümmerer

Viele wundern sich weshalb die AKP und ihr Führer Erdogan in der deutsch-türkischen Communities sogar unter den Deutsch-Türken der dritten oder gar vierten Generation so einen großen Zuspruch bekommt.

Die Antwort liegt dabei klar auf der Hand: Erdogan und die AKP haben vor allem in den letzten 10 Jahren genau das gemacht, was die deutsche Integrationspolitik über Jahrzehnte versäumt hat. Sie haben den hier lebenden türkeistämmigen Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl geschenkt mit ihren Sorgen gesehen zu werden. Jemand hat ihre Diskriminierungserfahrungen ernstgenommen und thematisiert, ihnen das Gefühl gegeben wertvoll zu sein, ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl geschenkt. Erdogan hat genau mit den Botschaften operiert, die die Deutschtürken von der deutschen Politik so schmerzlich vermisst haben: Ihr seid es wert geschützt zu werden. Ihr genießt mein Vertrauen. Ihr seid gute Menschen auch und gerade als Muslime.

Ja, aktuell muss man  von einer Spaltung der Türkischen Community in Deutschland sprechen, analog zur Spaltung der Gesellschaft in der Türkei, die noch viel länger andauert. Pro-Erdogan auf der einen Seite, Contra-Erdogan auf der anderen. Wenn diesen Menschen eine stärkere Zugehörigkeit zu Deutschland geboten und ermöglicht worden wäre und wenn sie diese auch zugelassen hätten, würde uns diese Spaltung heute vermutlich weniger beschäftigen. Die politischen Kräfte in Deutschland, haben es versäumt deutliche Botschaften der Zugehörigkeit in Richtung der Deutsch-Türken zu vermitteln.

Hinter uns liegen Versäumnisse und Irrwege der Integrationspolitik erwachsen aus einem falschen Integrationsverständnis. Der Kardinalfehler lag dabei in der Vorstellung man könne Integrationsmaßnahmen für Menschen entwickeln, statt mit ihnen. Die Interessen und Integrationsziele der Deutsch-Türken so mangelhaft die Planungsprozesse mit einzubeziehen, den Austausch wie er heute stattfindet, so sträflich zu vernachlässigen, das sind Fehler die wir angesichts der jüngsten Herausforderung im Bereich der Integration nicht wiederholen dürfen.

Da wir als türkische Gemeinde in Deutschland seit unserer Gründung im Jahr 1995 versuchen uns mit unserer Expertise in Planungsprozesse einzubringen, wissen wir wovon wir sprechen, wenn es um die Hürden zur Teilhabe geht. Erst in dieser Legislaturperiode, und das hat sehr viel zu tun mit der Arbeit von Aydan Özoguz und Manuela Schwesig, haben wir das Gefühl unserer Expertise in die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft wirklich nachhaltig einbringen zu können.

Nach dieser kurzen Auswertung und dem Versuch die Frage nach Ursachen zu beantworten möchte ich im letzten Teil meines Impulses auf mögliche Maßnahmen eingehen.

Statt den Deutsch-Türken in der gegenwärtigen Situation Illoyalität vorzuwerfen, was die Zuneigung zu Erdogan noch verstärken dürfte, wäre es da nicht vielleicht angebracht, einmal selbstkritisch zu sagen: „Ja es stimmt wir haben euch zu wenig zugehört.“ Und: „Ja es stimmt wir haben es euch nicht gerade leichtgemacht. Schön das ihr trotzdem immer noch da seid!“ Die Frage die ich stellen möchte ist: „was ist eigentlich so schwer daran, mal zu sagen es tut uns leid!“ Auf dem Weg der Vertrauensbildung kann das ein bedeutsamer erster Schritt sein.

 

Leitbildentwicklung

Deutschland braucht ein Leitbild ein Selbstverständnis hinter dem sich die Menschen gerne versammeln möchten und das der veränderten Realität in einer Pluralen Republik gerecht wird.

Anstatt sich panisch mit AFD Positionen auseinanderzusetzen und den aktuell verlorenen 20 % von Wählern, sollte man dazu übergehen, etwas anzubieten das den immerhin 80 % oder wenigstens der Mehrheit der Menschen, auch der mit Migrationsgeschichte so zeitgemäß und attraktiv erscheint.

Unser Grundgesetz bietet eine ausgezeichnete Grundlage zur Entwicklung eines solchen Leitbildes, an der dann alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligt werden sollten. Dieser Prozess ist glücklicherweise bereits begonnen worden von unserer Staatsministerin, und der Friedrich Ebert Stiftung. Die Erweiterung des Grundgesetzes um einen Vielfalt – Artikel wäre auf der emotionalen Ebene als Botschaft ein Meilenstein.

 

Diskriminierungsschutz

Die Verbesserung des Diskriminierungsschutzes ist ein wichtiger Baustein, da Menschen nur dann bereit sein werden, Verantwortung für ihr Land und seine Demokratie zu übernehmen, wenn ihre Rechte geschützt werden. Das AGG z. B.  regelt ausschließlich den privatrechtlichen Bereich, viele Diskriminierungen finden allerdings im Verhältnis zwischen Bürger und staatlichen Institutionen statt, liegen in Landesverantwortung und müssten hier gesetzlich geregelt werden.

 

Mehr Partizipation wagen

Im Augenblick wird viel über Demokratiedistanz gesprochen. Der Hebel zur Überwindung von Demokratiedistanz, ist unserer Einschätzung nach derselbe wie zur effektiveren Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft.  Es ist mehr Partizipation, zu Deutsch Teilhabe.

Ferner müssen wir den Menschen die Möglichkeit bieten, Identifikationsfiguren auf allen Ebenen zu haben. Deshalb heißt es: mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den höheren öffentlichen Dienst und in Führungspositionen. Denn das schafft Vorbilder und ein Zugehörigkeitsgefühl.  

Das kommunale Wahlrecht muss endlich kommen.

Ebenso die uneingeschränkte doppelte Staatsbürgerschaft.

Neuer Blick auf Migrantenorganisationen

Die Betrachtung der Migrantenorganisationen als wichtige Akteure bei der Gestaltung der (Einwanderungs-) Gesellschaft (nicht als Beweis der Existenz von Parallelgesellschaften) hat eine große Wirkung in alle genannten Zielgruppen hinein.

Keine Islamisierung der Integrationsdebatte

Zurzeit findet eine absolute Überwahrnehmung der Integration des Islam in Deutschland statt, die alle anderen Fragen überlagert. Das steht einer notwendigen Differenzierung die der Vielfältigkeit der migrantischen auch der türkeistämmigen und natürlich auch der muslimischen Bevölkerung gerecht würde entgegen. Übrigens werden wir am 26.10.2016 gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin hierzu eine Veranstaltung umsetzen, falls sie Interesse haben. Für einen verschwindend geringen Teil der in Deutschland lebenden Muslime ist der Burkini oder die Burka überhaupt ein Thema! Die Behandlung dieser Themen steht in keinem Verhältnis zu ihrer eigentlichen Bedeutung. Die türkeistämmigen Menschen möchten mit all ihren Facetten wahrgenommen werden, für manche gehört die Religion in hohem Umfang dazu, für manche eben nicht. Vor allem aber spielen für alle diese Menschen andere Aspekte eine viel größere Rolle, sie sind in erster Linie Familienmenschen, die das Beste für ihre Kinder wünschen, Berufstätige, Selbstständige, Fußballfans oder was auch immer.

Ich frage mich manchmal: Was haben wir mit unserer großartigen Verfassung und unserer Lebensweise für ein mickriges Selbstvertrauen, wenn wir ständig das Abendland bedroht sehen, statt uns den realen Problemen der Menschen zuwenden?

Deshalb appelliere ich an die Mehrheitsgesellschaft: nehmt uns wahr! Akzeptiert unsere Vielschichtigkeit! Und fragt uns, wenn etwas schwer zu verstehen scheint, statt uns zu misstrauen oder uns als illoyal zu beschimpfen. Auch wir haben den Auftrag Deutschland mitzugestalten und uns für gemeinsame Zukunft einzusetzen. Es ist auch unser Land, unsere Heimat. Es bedarf dazu des Zusammenwirkens beider Seiten: die einen müssen es zulassen. Die anderen müssen es wollen. Wir sind bereit.

 

Ganz zum Schluß ein hervorragender Satz vom Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler aus seiner Facebookseite:

"Ich sage jetzt mal etwas, was in manchen Ohren ganz wild klingen könnte: ich finde, Deutschland ist eine gute Heimat. Wie sollten kritisieren, was zu kritisieren ist, verbessern, was zu verbessern ist, an unseren Fehlern arbeiten, an unseren Herausforderungen wachsen aber auch, wenigstens ein bisschen, stolz sein auf das gemeinsam Erarbeitete."


Vielen Dank für die Aufmerksamkeit